
Reisereportagen
Unterwegs (Kolumnen)
Ion Karagounis ...
- ... über Demokratie in China [lesen]
- ... über Wildschweine und andere Spezialitäten im Speisewagen [lesen]
- ... über präzise Fahrplaninformationen der SBB [lesen]
- ... kriegt leider kein Zebu [lesen]
- ... über den Weisheitszahn von Vladivostok [lesen]
- ... über Fake-News in China [lesen]
- ... über das Ernten von Bananen auf La Palma [lesen]
- ... über verführerische Reiseführer [lesen]
- ... über vergessene Orte in Madagaskar [lesen]
- ... kapiert nichts an der Donau [lesen]
- ... über das nächste Mordopfer in der Bretagne [lesen]
- ... über eine Zugreise, die immer teurer wird [lesen]
- ... über Selfie-Sticks und andere nützliche Dinge [lesen]
- ... über exotische Fleischgenüsse in Nairobi [lesen]
- ... über zwei Welten, die nicht zueinander passen [lesen]
- ... über fehlende Lokführer [lesen]
- ... bei den Schlammengeln [lesen]
- ... über das Kaufen von chinesischen Zugtickets [lesen]
- ... über das schnelllebige China [lesen]
- ... über fehlende Briefkästen in Peking [lesen]
- ... über Busfahrten in Steueroasen [lesen]
- ... über den Fang des Tages [lesen]
- ... über verführerische Hotelangebote auf Santorini [lesen]
- ... über organisiertes Chaos [lesen]
- ... am Billettautomaten [lesen]
- ... über den Zwang, Reisen im Internet zu buchen [lesen]
- ... über das Pech des Reisenden [lesen]
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… über Demokratie in Chinan (September 2019)
Chinesen gehen meisterhaft mit Begriffen um, die ihnen nicht genehm sind: Sie verdrehen ihre Bedeutung, bis sie in ihr Weltbild passen, oder sie schweigen sie ganz tot.
Das konnte ich kürzlich in Shenzhen erleben. Das ist die Millionenstadt gegenüber Hongkong, die innert weniger Jahrzehnte aus dem Boden gestampft wurde, und in der alles möglich ist. Hier sollen vor zwei Jahren chinesische Forscher erstmals einem menschlichen Embryo fremdes Erbgut eingepflanzt haben. Hier haben führende Technologiekonzerne wie Tencent und Huawei ihre Forschungszentren Firmen, die unser Leben völlig umkrempeln werden.
Bei einem Vortrag von Huawei ging es um die technischen Fortschritte, die man in den nächsten Jahren anpeile viel mehr Daten in viel kürzerer Zeit zu transportieren. Eine Folie stach aus der Masse heraus: «Connectivity will be a basic human right.» Frei übersetzt: Der Zugang zu digitalen Dienstleistungen und Daten wird ein grundlegendes Menschenrecht sein. Meinte da tatsächlich jemand, dass bereits das Bereitstellen einer Technologie ein Menschenrecht garantiere? Was über diese Datenkanäle transportiert werden darf und was blockiert wird, was noch viel einschneidender observiert und allenfalls geahndet wird, das war kein Thema. Das entscheidet nicht Huawei, und es interessiert Huawei auch nicht. Darum kümmern sich weise Staatsoberhäupter wie Xi, Putin oder Erdogan.
Nicht schlecht staunte ich, als ich tags darauf erneut mit einem für China doch unüblichen Begriff konfrontiert wurde. Ich war auf dem Weg zur U-Bahn-Station. Er führte einen Bauzaun entlang. Werbeplakate für die Metro von Shenzhen und die China Railway Tunnel Group zierten die Wände. Dazwischen hing ein Plakat mit dem Aufdruck «Democracy». Nach Menschenrechten auch noch Demokratie? In Shenzhen schien tatsächlich alles möglich zu sein.
Verwirrt ging ich weiter auf meinem Weg zum Window-of-the-world-Themenpark. Das ist eine dieser Kunstwelten, für die Shenzhen bekannt ist. Hier stehen die Kopien von Kulturdenkmälern und Naturwundern aus der ganzen Welt.
Als ich in einer Indoor-Version der Alpen Chinesen beim Ski- und Bobfahren zusah, kam mir das Demokratie-Plakat wieder in den Sinn. Hing es etwa mit Hongkong zusammen, wo dieser Tage einmal mehr handfest um freiheitliche Werte nach westlicher Art gestritten wird? Oder war das Plakat ein Hinweis auf vergangene Demokratie-Experimente in China? Kaum zehn Jahre ist es her, seit die chinesische Regierung auf lokaler Ebene verschiedene Versuche zuliess. Es wurde getestet, wie die Bevölkerung in Entscheide von lokaler Bedeutung miteinbezogen werden kann. In der Ära Xi Jinpings verschwanden die Experimente jedoch wieder.
Die Frage liess mich nicht mehr los, und bei der Rückkehr ins Hotel wollte ich das Plakat fotografieren. Doch ich fand es nicht mehr. Zweimal schritt ich den Bauzaun ab, vergeblich. Hatte ich mich etwa geirrt? Was tun ohne Foto? Jemanden zu fragen, was es mit dem Plakat auf sich hat, schien mir zwecklos. Das Gegenüber würde lächeln und antworten: «Sie müssen sich geirrt haben.»
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… über Wildschweine und andere Spezialitäten im Speisewagen (Forum Pro Bahn Schweiz 2/19)
«Stalingrad, Oberkampf, Hoche, Ourcq». Ich wunderte mich, woher die seltsamen Bezeichnungen stammten. Zeit dazu hatte ich reichlich. Denn ich sass im TGV von Paris nach Zürich und kam ähnlich langsam voran wie zuvor in der Metro, mit der ich bei den Stationen mit eben diesen Namen vorbeigefahren war.
Bereits die Abfahrt des TGV hatte sich um zwanzig Minuten verzögert, «wegen verspäteter Bereitstellung». Dann fuhren wir mit 180 statt 300, «wegen schlechter Witterungsverhältnisse.» Was waren wohl die wahren Gründe für die Verspätungen? Fehlendes Personal? Schlecht gewartete Züge?
Irgendwann nach Dijon ging es schneller voran. Es war schon Nacht und wir waren unterdessen vierzig Minuten in Verzug. Plötzlich rumpelte es unter uns und der Zug leitete eine Vollbremsung ein. Das darf nicht sein, dachte ich, da ist jemand unter den Zug gekommen.
«Meine Damen und Herren, wir sind soeben in eine Horde Wildschweine gefahren», hiess es kurze Zeit später. Erleichterung machte sich breit unter den Fahrgästen, immerhin kein Mensch.
Und dann: «Die Weiterfahrt verzögert sich um zehn Minuten. Der Lokomotivführer muss den Zug auf allfällige Schäden überprüfen». Über die Schäden an den Wildschweinen gab es keine Informationen. Umso intensiver waren die Diskussionen unter den Reisenden.
«Wie viele Wildschweine waren es wohl?», wollte eine Passagierin wissen. Eine andere meinte: «Ach, das ist doch egal, mein Vater musste auch immer Wildschweine schiessen. Davon gibt es ohnehin zu viele.»
«Jetzt gibt es sicher Wildschweinsteak im Bistro», bemerkte einer. «Wohl eher Hamburger», entgegnete der Sitznachbar, «allenfalls etwas metallhaltig». Natürlich dauerte die Kontrolle viel länger als angekündigt. Der Zug war rund 400 Meter lang. Allein schon einmal hin- und zurückgehen benötigte mehr als zehn Minuten. Hier aber musste der Lokführer im Dunkeln den Unterbau des Zuges mit der Taschenlampe inspizieren.
Als es weiterging, schaute ich auf der Fahrplan-App der SBB, wann wir ankommen würden. «Der TGV von Paris Gare de Lyon nach Zürich HB ist 1 Stunde 15 Minuten verspätet», stand da. Und, hohe Kunst der Kommunikation: «Grund für die Verspätung: Tiere in Gleisnähe».
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… über präzise Fahrplaninformationen der SBB (Forum Pro Bahn Schweiz 4/18)
Kürzlich haben die SBB ihre Kommunikationskompetenz einmal mehr eindrücklich bewiesen. Es begann so: «Wegen eines Defektes an einem vorausfahrenden Zug endet dieser Zug in Rafz. Es verkehren Ersatzbusse nach Schaffhausen». 30 Sekunden später eine andere Stimme: «Ihr Zug endet in Rafz. Es besteht zur Zeit keine Möglichkeit zur Weiterfahrt.»
Was jetzt? Es war Montagabend, zehn vor zehn. 150 Leute stiegen aus und gingen zur Bushaltestelle. Dort passierte vorerst: nichts. Niemand da, der etwas wusste. Lautsprecher gab es viele, doch sie schwiegen.
Nach zehn Minuten quoll eine Stimme aus der Unterführung: «Die Strecke von Rafz nach Schaffhausen ist unterbrochen. Reisende von Zürich fahren bitte über Winterthur.» Das waren vielleicht News.
Die SBB-Fahrplanauskunft weiss sicher mehr. Schnell war die Nummer gewählt, die auf der Infotafel stand: 0900 300 300. «Diese Nummer ist nicht mehr in Betrieb, Sie erreichen die SBB unter 0848 44 66 88». Hier steht eine Menge Leute am Bahnhof Rafz und möchte wissen, wie es weiter geht, erklärte ich einem netten Herrn. «Wie eisst das Ort?», fragte er. Deutsch war offensichtlich nicht seine Muttersprache. «Tut mir leid, ich kann nicht finden Ravds». Nach drei Mal Buchstabieren war es geschafft. «Doch, es gibt Züge in Rafz, zum Beispiel um 22.14 nach Zürich!». Nach Schaffhausen wollen wir, nicht nach Zürich. «Tatsächlich, die Strecke ist blockiert. Aber Sie können mit dem Postauto nach Winterthur Museumsstrasse fahren und von dort zu Fuss ...», aber da hörte ich nicht mehr hin.
Zwei Postauto-Busse fuhren vor. Hoffnung kam auf. Doch es handelte sich um die Linienbusse nach Wil und Winterthur. Auch die Chauffeure wussten nicht mehr. «Ersatzbusse nach Schaffhausen? Die sind doch nicht so schnell da, wo denken Sie hin!».
Etwas abseits standen zwei Herren. Irgendwann merkte jemand, dass es sich um SBB-Angestellte handelte. Sofort wurden sie mit Fragen eingedeckt. Einsilbig ihre Antwort: «Wir können doch nichts dafür, wenn ein Güterzug stecken bleibt.» Und dann ein Satz wie aus dem Lehrbuch «Die zehn Todsünden der Kommunikation»: «Gehen Sie nach Lottstetten und schieben Sie den Zug selber weg, wenn es Ihnen nicht passt!».
Schliesslich meldete sich einer der Buschauffeure: «Um halb elf wird auf Gleis 2 ein Zug nach Schaffhausen fahren. Der Regioexpress hält ausserplanmässig.» Die Leute drängten in die Unterführung. Dort ging es nicht weiter, einige kamen bereits wieder zurück. Es gab kein Gleis 2. Also retour zu den Bussen. Ach so, gemeint war Gleis 3. Wieder runter in die Unterführung. Monsieur Hulot liess grüssen.
Auf der Abfahrtstafel stand: «22.30 Uhr Regioexpress nach Schaffhausen». Die Präzision der SBB war wieder da. Routiniert, als ob dieser Zug immer hier halten würde. Und, ebenfalls reinste Routine: «Zirka 3 Minuten später.»
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… kriegt leider kein Zebu
Entwicklungsländer stehen unter vielen fremden Einflüssen. Verschmelzung von Kulturen kann man das positiv nennen, andauernde Kolonialisierung negativ. Das war nicht anders, als ich kürzlich in Madagaskar war. Die Fremden gaben sich förmlich die Klinken in die Hand. Das alles mag nach Klischee tönen, aber es kam mir tatsächlich vor wie in einem schlechten Film.
Also, da waren: natürlich die Franzosen, Kolonialherren bis 1961. Ausserdem die Deutschen, die Chinesen, die Kirche und die Amerikaner. Nur die Russen fehlten. Vielleicht gaben sie sich einfach nicht zu erkennen.
Es begann in einer Fabrik an der Nordost-Küste, südlich von Sambava. Madagaskar ist weltweit der grösste Exporteur von Vanille, und hier wurden Duftextrakte aus Vanille hergestellt. Die Hackordnung in der Fabrik war traditionell: Die Madagassen arbeiteten, als technischer Leiter und als Direktor amteten zwei Franzosen. Und die Firma selbst? Die gehört Deutschen.
In Sambava selbst kehrten wir im Chez Mimi ein. Da gab es Brioches und Pain au Chocolat, aber auch kantonesischen Reis. Denn das Lokal gehört jetzt einem Chinesen. Dann Andapa, ein 10'000-Seelen-Dorf in den Bergen: Das einzige Restaurant gehört ebenfalls einem Chinesen. Es gab, genau, kantonesischen Reis.
Natürlich haben die Chinesen mehr Ambitionen als Restaurants zu besitzen. Sie bauen unter anderem Zucker an und exportieren ihn nach China. Zudem sind sie an der Abholzung und am illegalen Handel mit Rosenholz beteiligt.
Wir fuhren tiefer in die Berge. Da stand unübersehbar die nächste Institution, die seit Jahrhunderten auf Einflussnahme spezialisiert ist: die Kirche. Gleich in zwei Dörfern befanden sich völlig überdimensionierte Gotteshäuser im Bau. Der gegenwärtige Präsident der Nationalversammlung stamme aus der Gegend und lasse diese Kirchen bauen, hiess es. Da gäbe es andere Dinge, von denen die arme Bevölkerung mehr profitierte.
Wir besuchten ein Dorf, in dem neue landwirtschaftliche Techniken getestet werden. Sie versprechen mehr Ertrag und weniger Umweltbelastung. Wir wurden empfangen mit einer kurzen Ansprache des Dorfvorstehers und einer Tanz-Aufführung. Smartphones und Kameras wurden gezückt Hemmungen muss dabei heute niemand mehr haben. Denn es waren ebenso viele Einheimische, die Smartphones besassen, wie Gäste.
Üblicherweise schlachte man für Gäste ein Zebu, erklärte der Dorfvorsteher nach dem Rundgang. Heute sei das jedoch leider nicht möglich. Gerne lade man uns aber zu einem Umtrunk ein. Wir stiessen an auf die Zukunft des Dorfes: mit Bier und Cola.
Das Video zur Kolumne: Leider kein Zebu für Ion Karagounis [Video] -
… über den Weisheitszahn von Vladivostok (NZZ Online, 16.10.2018)
Düstere Plattenbauten, rauchende Kamine, trostlose Strassenzüge, alles in einer permanenten Froststarre das Bild über russische Städte sitzt tief. Allein die Namen Chabarowsk, Nowosibirsk, Krasnojarsk, Magnitogorsk lassen das Schlimmste befürchten. Möglichst schnell wieder weg ist das erste, was man nach der Ankunft denken wird.
Weit gefehlt! Vladivostok beispielsweise überrascht in jeder Beziehung. Abgesehen davon, dass die Stadt nicht gerade am Weg liegt, lösen sich die Argumente gegen einen Besuch schnell in der Luft auf. Das Klima? Vladivostok liegt auf der Höhe von Florenz, der September ist so mild, wie wir ihn uns immer wünschten. Eine breite Promenade mit Bars, Lounges und Restaurants direkt am Meer lockt.
Auch sonst ist das Stadtbild vielfältig. Im Kern der ab 1860 erbauten Stadt stehen viele Bauten aus der Gründerzeit. Dann folgt ein Ring mit sowjetischer Architektur und die neusten Häuser ähneln dem, was man in chinesischen Grossstädten sieht. Wie überall gibt es auch hier einige Investitionsruinen. Gleich zwei Hyatt-Hotels stehen unvollendet an bester Lage am Meer Katzen, die über das abgesperrte Gelände streunen, sind das einzige Lebenszeichen. Voll in Funktion ist dagegen das fast zwanzigstöckige Bürogebäude im Zentrum. Es ist auffällig weiss, überragt alle anderen Gebäude und beherbergt die regionale Verwaltung. Der Volksmund nennt es den Weisheitszahn.
Der Service? Natürlich gibt es da die Kioskverkäuferin, die gelangweilt rumsitzt und ihre Fingernägel feilt. Sonst aber zuvorkommend und hilfsbereit. Um fünf Uhr morgens einen Flug umbuchen? Erledigt die Angestellte an der Hotel-Rezeption im Nu. Wie war das mit dem Service bei der letzten Übernachtung in einem Schweizer Hotel?
Die Sicherheit? Kein Problem, heisst es. Ach, Nordkorea? Natürlich, manchmal messe man leichte Erschütterungen, wenn Kim Jong-Un seine Bomben teste. Aber: So sicher wie in Vladivostok sei es sonst nirgends in Russland. Neben Moskau ist Vladivostok die einzige Stadt, die von einem permanent aktiven Raketenabwehrschild überwacht wird. Denn hier ist die Marine Russlands stationiert.
Shoppen, für viele der Hauptzweck einer Städtereise? Da hat Vladivostok einiges an Lokalkolorit zu bieten. Noch haben die internationalen Ketten nicht übernommen. Sportkleider kauft man hier nicht bei Nike, Outdoor-Bekleidung nicht bei Jack Wolfskin. Hier geht man in die Flagship-Stores einheimischer Produktion: in den Laden der russischen Armee und ins Kaufhaus der pazifischen Flotte.
Mehr lesen über Vladivostok: Neue Seidenstrasse: Phantomjagd im Fernen Osten von Russland [Download] Das Video zur Kolumne: Der Weisheitszahn von Vladivostok [Video] -
… über Fake-News in China (NZZ, 27.4.2018)
Vor wenigen Jahren glaubte ich, zum letzten Mal mit einem chinesischen Nachtzug unterwegs gewesen zu sein. Sie werden schrittweise von Tagesverbindungen abgelöst, seit immer mehr Hochgeschwindigkeitszüge fahren.
So war ich leicht irritiert, als ich im Internet ein Zugbillett von Chengdu nach Shanghai lösen wollte. Zirka 2000 Kilometer, Abfahrt 8 Uhr morgens, Ankunft 9 Uhr abends. In erster Klasse wurden jedoch nur Schlafwagenplätze angeboten. Muss ein Fehler sein, dachte ich, und kaufte das Ticket trotzdem.
Es war aber keiner. 15 Schlafwagen erster Klasse stehen bereit, plus 1 Wagen mit Sitzplätzen zweiter Klasse. Wie üblich Vier-Bett-Abteile, hier in modernster Ausführung inklusive Fernseher bei jedem Bett. Trotzdem muss man nicht auf liebgewordene Gewohnheiten einer Zugfahrt in China verzichten: Heisses Wasser zum Aufgiessen der Nudelsuppe gibt es am Wagenende, unter der Liege stehen für jeden Reisenden Schlarpen bereit und fünf Minuten nach Abfahrt wird zum ersten Mal der Boden gereinigt.
Leider liege ich oben und sehe kaum aus dem Fenster. Dabei fahre ich Zug, um etwas vom Land zu sehen. Immerhin, heute verpasse ich nicht viel. Einmal mehr hat sich diese deprimierende graue Schadstoff-Suppe über das Land gelegt. Wie das Idealbild Chinas aussieht, zeigt der Werbefilm am Fernseher. Alte Dörfer und Tempel, moderne Citys und Industrieanlagen. Schöne Landschaften, blauer Himmel, gesunde Nahrung. Glückliche Menschen strahlen im Sonnenlicht.
Über den Fortschritt bei der Verwirklichung des chinesischen Traums berichtet auch China Daily, das Propagandablatt der Regierung. In der heutigen Ausgabe geht es um führerlose Hochgeschwindigkeitszüge, die ab 2022 fahren sollen, um die geplante Beseitigung der Armut in der Region Guangxi Zhuang bis 2020, um Hongkong, das vom Wachstum des Mutterlandes profitiere, und um die Entwicklung des Internets zum Wohle aller.
Ein neues Gesetz soll sicherstellen, «dass Online-Inhalte korrekt und objektiv ausfallen». Tönt einleuchtend, denke ich, ärgern wir uns doch täglich über Fake-News. Man habe festgestellt, dass schlecht ausgebildete Mitarbeitende von Newsseiten oft «unsaubere oder illegale» Inhalte verbreiteten. Das schade der Entwicklung des Internets und dem öffentlichen Interesse. «Je stärker Newsprovider reguliert würden, desto gesünder würden die platzierten Informationen», so die Folgerung.
Ich frage mich, ob der chinesische Traum in Erfüllung gehen wird, und schlafe dabei ein. Als ich wieder erwache, scheint die Sonne.
Mehr lesen über China: Der grosse Sprung nach hinten. Im Hinterland Chinas entstehen die grössten Städte der Welt [Download] Das Video zur Kolumne: Sonnenschein im Nachtzug und andere Fake-News aus China [Video] -
… über das Ernten von Bananen auf La Palma (NZZ, 8.9.2017)
Es gibt, plakativ gesagt, zwei Sorten von Reisenden: Die einen bleiben im Ausland gerne unter sich. Sie treffen sich in Benidorm oder an der Playa del Inglés wieder. Die anderen versuchen, genau das zu vermeiden. Sie meinen, weltoffener zu sein. Vermutlich haben sie einfach Angst davor, sich selbst wiederzufinden.
Das zu verhindern, ist oft schwierig. Das musste ich kürzlich erfahren, als ich auf die kanarischen Inseln fuhr. Die Lösung schien einfach: Nach La Palma, auf die grüne Insel, die verschont geblieben ist von den grossen Touristenströmen. Vulkane erkunden statt Leib an Leib am Strand zu liegen, in kleinen Pensionen wohnen statt in mächtigen Hotelburgen, abends Sternen beobachten am Nachthimmel statt nervöser Lasershows. Und eine gute Gelegenheit, das Spanische aufzufrischen! So stopfte ich die Grammatik noch ins Gepäck, kurz bevor ich abreiste.
Das Zusatzgewicht hätte ich mir sparen können. «Sprechen Sie deutsch?», fragt die Autovermieterin als erstes nicht um uns, sondern sich selbst das Leben zu erleichtern.
Wir fahren los Richtung Los Llanos. Hier wirbt ein Schild für die «Hausbrauerei», da empfiehlt sich ein Baugeschäft mit den Worten «Vor dem Bauen Steffen fragen!».
Heimische Gefühle weckt auch das Restaurant Carpe Diem in Tazacorte. Zugegeben, eine Speisekarte auf Deutsch ist angenehm, wenn es darum geht, Wolfsbarsch, Zitronen-Kartoffelstock, Avocado-Aufstrich und Artischockenschaum zu bestellen. Mehr müsste nicht sein: «So, ihr Lieben, schmeckt es euch?», erkundigt sich die Wirtin. Und, nachdem der Teller leer gegessen ist: «Na, dann wird es morgen ja schönes Wetter!»
Je weiter wir ins Zentrum der Insel kommen, desto vertrauter tönt es: Nicht Rodriguez oder Pérez steht auf den Briefkästen in Puntagorda, sondern Boeschenstein und Riegg. Alles ist da, was man von zu Hause kennt. Im Bioladen gibt es Almrausch-Müesli und glutenfreie Teigwaren. Im Dorfzentrum ist der Kulturverein «Nordwind» einquartiert. Sein Name ist Programm, alles scheint von Mitteleuropa hierher verweht: Es gibt Kurse in «Energie-Arbeit», «Japanischem Heilströmen», «Chakren-Malen» oder «Lösungsorientierten systemischen Aufstellungen». Hinter dem Vorhang schweben Gestalten mit entrücktem Gesichtsausdruck durch den Raum.
Kann man hier nicht einfach ganz gewöhnliche Ferien machen? Mich interessieren Vulkanschlünde, nicht seelische Abgründe schon gar nicht die meiner Landsleute. Wieso heuern die nicht in der Bananenplantage nebenan als Arbeitskraft an? Im Fachjargon hiesse das dann wohl Erntetherapie.
Mehr lesen über La Palma: Wo Wanderer schwarz sehen – La Palma zu Fuss [Download] -
… über verführerische Reiseführer (NZZ, 9.6.2017)
Einzigartig, unvergleichlich und unvergesslich: Verfasser von Reiseführern sind nicht zu beneiden. Sie dürfen nie verlegen sein um enthusiastische Worte und sprachliche Superlative für zweitrangige Sehenswürdigkeiten oder Orte, an denen tote Hose herrscht.
Das ist die Krux mit uns verwöhnten Vielreisenden wir haben schon alles gesehen, erlebt und gespürt. Mag der Reiseführer auch buntes Treiben und betörende Düfte versprechen, nach dem fünften «Markt mit orientalischem Flair» ekelt man sich nur noch vor den penetrant riechenden Fischen. Und beim bunten Treiben handelt es sich wohl um die Fliegen, die das Fleisch belagern.
Ebenfalls nicht allzu hoch sollten die Erwartungen gesteckt werden, wenn ein Reiseführer nur wenige Zeilen über einen Ort verliert. Besonders, wenn Prädikate wie «ursprünglich» oder «das alte China» verwendet werden. Kann man doch davon ausgehen, dass die Tourismusindustrie alles Schöne bereits verwertet hat und dass der Rest wohl zu Recht links liegen gelassen wird. Hellhörig machen sollten zudem Passagen wie «noch wenig besucht». Das bedeutet: völlig abgelegen.
Beliebt sind auch Vergleiche. So gibt es neben der echten die sächsische Schweiz und neben dem Original mehrere Venedig des Nordens (so Amsterdam, Hamburg, Kopenhagen) oder des Ostens (unter anderem Bangkok, Osaka, Suzhou). Immerhin ist sofort klar, was damit gemeint ist: liebliche Landschaften mit Seen im Falle der Schweiz, eine Stadt mit vielen Wasserwegen bei Venedig.
Kürzlich stiess ich, auf dem Weg nach Wien, im Reiseführer auf den Begriff «Klein Athen». Ich wusste nicht, was ich erwarten sollte. Eine Nachahmung der Akropolis, mitten in der Wiener Altstadt? Bilder von wütenden Demonstranten, die «Troika raus» rufen? Oder zerfallende Häuser, deren Fassaden und Balkone notdürftig mit Gerüsten gesichert sind und einem an Havanna erinnern?
«Klein Athen» wird ein Viertel beim Fleischmarkt im historischen Zentrum Wiens genannt. Hier lebten im 15. Jahrhundert griechische Händler. Heute erinnert allerdings nur noch wenig daran. Eine Gasse, die Griechengasse heisst, und drei orthodoxe Kirchen. Sonst traf ich auf L'Occitane en Provence, einen Spar-Markt und Professor Wagners Tanzschule.
Vielleicht böte wenigstens das Griechenbeisl etwas Athener Stimmung? Fehlanzeige auch hier. Es gab währschafte Wienerkost und an den Wänden träfe Trinksprüche. Ein Musiker sass vor seiner Zither. Als er zu zupfen begann, kam Hoffnung auf. Ein Syrtaki vielleicht? Ach nein, «Oh du lieber Augustin».
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… über vergessene Orte in Madagaskar (NZZ, 14.2.2017)
Zuerst 50 Minuten im Flugzeug, von Antananarivo nach Sambava, dann drei Stunden im Auto nach Andapa. Unser Fahrer raste durch die Dörfer, Hühner stoben zur Seite, manchmal auch Rinder und Kinder. Bis auf eines (Huhn) kamen alle mit dem Schrecken davon.
Dann folgte eine weitere Stunde auf einer Holperpiste. In Schritttempo ging es von Schlagloch zu Schlagloch. Immer wieder schlugen wir mit dem Kopf ans Dach. «C'est la danse dans la voiture», bemerkte unser Begleiter. Ganz schön abgelegen leben die Leute hier, dachte ich. Doch das war erst der Anfang, jetzt steht der zweite Teil unserer Reise in den Ort Doany im Hochland von Madagaskar an: ein fünfstündiger Fussmarsch auf einer Waldstrasse über einen Pass.
Viele Leute sind unterwegs. Nichts Ungewöhnliches, bei uns in den Bergen ist man auch selten allein. Doch hier wird nicht aus Spass gewandert, sondern weil man hier durch muss. Man geht zur Arbeit oder kommt von ihr. Oder der Weg selbst ist die Arbeit, weil man als Träger Bierharasse schleppt, Lebensmittel, Möbel. 10'000 Aryary bringt das ein pro Weg, rund 3 Franken 30.
Die Strasse ist in schlechtem Zustand und völlig ausgewaschen. Sie ist nur mit Mühe mit dem Velo oder einem Motocross-Motorrad befahrbar. Über weite Strecken ist Schieben angesagt. Vor einigen Jahren konnten noch Traktoren passieren.
Der Tanz geht weiter: Leichtfüssig springen junge Madagassen von Stein zu Stein, überholen uns mit Links, obwohl sie schwer beladen sind. An den Flüssen, die es zu queren gilt, ziehen wir die Schuhe aus und krempeln die Hose hoch. Manchmal steht uns das Wasser bis zu den Hüften. Am anderen Ufer angekommen, sind die Einheimischen längst auf und davon. Sie tragen gar keine Schuhe, die nass werden könnten.
Auf halbem Weg begegnen wir einer grösseren Gruppe. Vier Männer tragen eine Frau auf einer Sänfte. Ein Begleiter schützt sie mit einem Schirm vor der Sonne, ein anderer fächert ihr Luft zu. «Das ist ein Krankentransport,» sagt unser Begleiter, «Familie und Freunde begleiten die Kranke nach Andapa.»
«Wieso repariert niemand diese Strasse?», fragen wir. «Kein Geld, die Regierung interessiert sich nicht für abgelegene Orte im Hochland.» Kaum fassbar. Bei uns geht ein Aufschrei durch die Alpentäler und den Blätterwald, wenn wir nur schon darüber nachdenken, ob tatsächlich jedes vom Aussterben bedrohte Dorf weiterhin eine Top-Strasse benötigt.
Natürlich, das kann man nicht vergleichen. Madagaskar steht auf Platz 217 der Welt-Einkommensrangliste, die Schweiz irgendwo ganz oben. Und Doany ist kein serbelndes Alpendorf, sondern eine Stadt mit 20'000 Einwohnern.
Mehr lesen über Madagascar: Unterwegs auf der Route nationale 6 [Download] -
… kapiert nichts an der Donau (NZZ, 19.8.2016)
Sind Sie schon einmal in einer Zille gefahren? Oder haben Sie je Beuscherl gegessen? Man muss weder nach China noch nach Zentralafrika reisen, um nichts zu verstehen. Da genügt ein Ausflug an die Donau, nach Passau und weiter flussabwärts, ins bayrisch-oberösterreichische Grenzgebiet.
Allein die Schifffahrt hat viele sonderbare Ausdrücke hervorgebracht: Zille, Treppelweg oder Havarieabsetzplatz. Unter Letzterem kann man sich noch etwas vorstellen: Derart gekennzeichnete Flachwasserbereiche, die es vor jedem Stauwehr gibt, ermöglichen sinkenden Schiffen einen geordneten Schiffbruch. Ein Treppelweg am Ufer entspricht unserem Treidelpfad, ein Weg, der einst dazu diente, beladene Schiffe den Fluss hochzuziehen. Und Zillen sind gemäss Variantenwörterbuch des Deutschen «kleine flache Boote», somit nichts anderes als unsere Weidlinge.
Missverständliches gibt es auch auf der Strasse: «Radfahrer absitzen!» steht auf einer Tafel vor einem unbewachten Bahnübergang. Besonders Schweizer könnten meinen, sie hätten sich hier auf die Schienen zu setzen natürlich sollten sie stattdessen vom Rad steigen. Absitzen ist hier als Gegenteil von aufsitzen gemeint.
Doch auch die Bayern haben manchmal Mühe, ihre europäischen Freunde zu verstehen. So soll einst Franz Josef Strauss selig, langjähriger Herrscher im Freistaat Bayern, den französischen Präsidenten François Mitterand, ebenso selig, zu einem Jagdausflug in den bayrischen Forst eingeladen haben. Nach langem Warten auf dem Hochsitz betritt ein Hirsch die Lichtung. Mitterand zeigt zuerst auf den Hirsch, dann macht er eine auffordernde Geste Richtung Strauss: «A vous!» Kurz darauf betritt ein zweiter Hirsch die Lichtung. Franz Josef Strauss, stolz auf das soeben erlernte Wort, zeigt auf die Tiere: «Zwa Vous!»
Ob die beiden zusammen eine Hirschkeule assen, ist nicht überliefert. Spätestens beim Essen jedoch hört der Spass mit dem Nicht-Verstehen auf. Hätten Sie etwa Lust auf eine Eitrige? Halb so wild, das ist eine Schweinsbratwurst mit Käsefüllung.Oder auf gegrillte Beiried an grünen Bohnen, Sandwich vom Spanferkel mit Blunzen oder Beuscherl vom Mostviertler Rind? Die Speisekarte im Landgasthaus Stift Ardagger macht ratlos. Sich auf den Wortklang verlassen? Das könnte schief gehen. Beuscherl tönt zwar nett, dürfte aber vielen im Hals stecken bleiben: ein Ragout aus Lunge, angereichert mit Herz und Milz. Blunzen steht für Blutwurst und Beiried, harmlos zumindest für Karnivore, bezeichnet ein Entrecôte.
Vollends sprachlos hingegen machen uns die Nachspeisen in der Jausenstation Trautendorfer. «Haben Sie Kuchen?», fragen wir. «Ja! Bananentörtchen und Negerschnitten.» -
… über das nächste Mordopfer in der Bretagne (NZZ, 15.4.2016)
Von Brest geht es über die Autobahn nach Quimper. Die bis zu 400 Meter hohen Monts d'Arrée lassen wir links liegen. Obwohl man hier, am Fuss des Roc'h Trévézel, kürzlich ein Mordopfer fand. Es führte auf die Spuren einer Sandraub-Mafia, die südlich von Quimper aktiv war.
Wie, Sie reisen in die Bretagne und kennen Kommissar Dupin nicht? Dann sollten Sie vorher mindestens einen Kriminalfall des Autors Jean-Luc Bannalec lesen. Dupin löst nicht nur wie wäre es anders zu erwarten seine Fälle bravurös, sondern bietet vergnügliche Einblicke in die Kultur und das Leben der Bretagne.
In Quimper kaufen wir, es Dupin gleich tuend, im Rose Bunker an der Rue de Kergariou Geschenke aus rezyklierten Materialien. Dann fahren wir ins Hafenstädtchen Concarneau, wo Dupin im Restaurant Amiral ein Entrecôte zu verzehren pflegt, und nach Pont-Aven, wo das Hotel Central im Mittelpunkt des ersten Falls von Dupin stand.
Die Bretagne strotzt vor symbolträchtigen Orten und bald wetten wir, wo der Mörder im nächsten Dupin-Fall sein Opfer zurücklassen wird. Etwa im Dolmen von Locmariaquer? Schwierig, der Platz ist eingezäunt und nur gegen Eintritt zugänglich. Oder im Hafen von La Trinité sur Mer, am Masten eines Katamarans hängend? Zu riskant, da gibt es zu viele Segelfreaks, die zu jeder Tageszeit zu den gigantischen Segeljachten pilgern. Oder in einem der Ferienhäuser an der Pointe de la Jument in Pouldohan? Die stehen fast das ganze Jahr über leer, wen soll man da schon umbringen.
Nein, der Mörder wird sein Opfer mitten in einem Strassenkreisel verscharren. Neben Austern und Asterix und Obelix scheinen sie das Kulturgut der Bretagne zu sein. Kein Dorf, kein Weiler, das nicht seine eigenen Verkehrskreisel hat. Manche folgen einander in derart kurzem Abstand, dass sie aus der Luft wie eine Acht aussehen.
So wie die bretonischen Dolmen und Menhire heute noch viele Geheimnisse bergen, werden unsere Nachkommen vor einem weiteren unerklärlichen Phänomen stehen: Was bedeuten all die betonierten Kreise und Achten in der Bretagne? Das Auto kennen sie nicht mehr, die Menschen schweben Insekten gleich mit zu persönlichen Flugassistenten weiterentwickelten Drohnen übers Land.
Vorerst aber fragen wir uns, warum man überhaupt so viele Kreisel baute. Das bescheidene Verkehrsaufkommen rechtfertigt nicht die Hälfte von ihnen. Da muss es einen gut gefüllten EU-Strukturfond gegeben haben. Reine Spekulation! Warten wir den nächsten Fall von Dupin ab. Er wird darin nicht nur den Kreiselmörder entlarven, sondern auch die korrekte Erklärung für die bretonische Kreiselvielfalt bereithalten. Mehr lesen über die Bretagne: Regen für Idioten, Inspiration für Künstler [Download] -
… über eine Zugreise, die immer teurer wird (NZZ, 27.11.2015)
Knapp 24 Stunden dauerte die Bahnfahrt von Schaffhausen über Hamburg und Kopenhagen nach Stockholm. Viel Zeit zum Lesen und Ausruhen, kein Stress auf Flughäfen und im Flugzeug. Am Abend vor der Rückreise überprüfe ich den Fahrplan im Internet. Da steht doch tatsächlich ein rotes Warnzeichen bei der Verbindung! Und in der Fussnote: «Polizeilicher Einsatz bei Roedby, Dauer unbestimmt.» Der Blick in die Nachrichtenportale bestätigt meine Vermutung: Die dänische Polizei hat die Grenzen für den Bahnverkehr wegen des Ansturms der Flüchtlinge gesperrt.
Was tun? Die Vernunft sagt: einen Flug Stockholm-Zürich buchen. Preis aktuell: 413 Franken. Die Abenteuerlust sagt: Trotzdem probieren, statt über Roedby über Flensburg, da diese Strecke offen sein könnte. Allerdings wären die Umsteigezeiten sehr gering, zwischen zwölf und zwanzig Minuten. Da bräuchte es nicht viel und die ganze Kette würde reissen.
Also fliegen, schweren Herzens. Mein Lavieren kostet mich 100 Franken. Der Preis für das Flugbillett ist in den letzten dreissig Minuten auf 515 Franken gestiegen.
Ab jetzt konzentriere ich mich darauf, für das nicht benötigte Bahnticket immerhin 240 Franken möglichst viel zurückzukriegen. Bei der Schwedischen Bahn lasse ich mir die Nicht-Benutzung meiner Fahrkarten bestätigen. Der Beamte stempelt sie ab und verfasst eine Notiz. «Kann ich Englisch schreiben?», fragt er. «Ich weiss nicht, ob man das bei der Deutschen Bahn versteht». Das weiss ich auch nicht, aber wohl eher als Schwedisch.
Dann telefoniere ich der Deutschen Bahn, um meinen Schlafwagenplatz zu annullieren. Der könnte ja nochmals vergeben werden. Die Antwort? «Da Sie das Ticket am Schalter gekauft haben, können wir nicht auf die Buchung zugreifen». Dafür greift Sunrise tief in mein Portemonnaie: Beinahe zehn Franken werden für die 16 Minuten in der Warteschlaufe fällig.
Zurück in Schaffhausen, geht es zum Schalter der Deutschen Bahn. Dort händigt mir der Beamte das Fahrgastrechte-Formular aus, das ich vollständig auszufüllen, mit allen Belegen zu versehen und an das Servicecenter Fahrgastrechte in Frankfurt zu senden habe. Er strahlt zufrieden nicht weil er mir einen guten Dienst erwiesen hat, sondern weil er eine lästige Frage der Zentrale überlassen kann.
Vier Wochen später kommt die Antwort: 120 Franken gibt es zurück für die Schlafwagen-Reservation in Deutschland. Für weitere Ansprüche sei das Bahnunternehmen am Startort der Reise zuständig, also die Schwedischen Bahnen. Innerhalb von weiteren vier Wochen soll von dort eine Antwort eintreffen. Mal sehen, ob sie deutsch, englisch oder schwedisch ausfällt. -
… über Selfie-Sticks und andere nützliche Dinge (NZZ, 7.8.2015)
Meist wollen sie uns unnützes Zeugs andrehen, die Strassenhändler, die sich in allen grösseren Touristenorten an unsere Fersen heften. Jedes Jahr kommen neue Dinge auf den Markt und man kann wetten, welche den Durchbruch schaffen und welche schon nach einer Saison wieder verschwunden sein werden.
Wie wird es wohl dem rehbraunen, hektisch zuckenden Stofftierchen ergehen, das zurzeit in Schanghais Strassen auf seine Abnehmer hofft? Aussehen tut es wie ein Hund, tönen wie ein neugeborenes Küken. Haben wir so oder ähnlich schon gesehen, es wird kein Verkaufsschlager werden. Oder was ist mit dem Rollenpaar, das sich an die Schuhe klemmen lässt, rot, blau und grün blinkt und seine Träger zum leuchtenden Rollschuhfahrer macht? Das Potenzial ist beschränkt, die Dinger benötigen ein Minimum an Geschicklichkeit. Wer will schon mitten auf dem Platz des Volkes auf die Schnauze fallen?
Nein, Renner des Jahres wird der Selfie-Stick, der dem seit einigen Jahren anhaltenden Drang des Sich-Selbst-Porträtierens neue Dimensionen verleiht. Ohne Selfie geht heute nichts mehr und die Welt ist bereit für das ultimative Accessoire.
Doch es gibt ein Produkt, dem der Selfie-Stick nie wird das Wasser reichen können. Es findet seit Jahren hohen Absatz und man ist sogar froh, wenn ein Strassenhändler es anbietet.
Nie hätte ich gedacht, dass es in Schanghai so stark regnen kann. Da gibt es nichts zu zögern, ein Schirm muss her. Wie praktisch, die Schirmverkäuferin steht bereits vor dem Hoteleingang. Das ist natürlich kein Zufall, sondern ein bestens organisiertes Geschäft. Beginnt es zu regnen, verschwinden Hündchen und Konsorte in den nahe gelegenen Lagern und die Schirme werden hervorgeholt. Andere waren auch vergesslich, und so begegne ich bald vielen Leuten, die mit demselben Schirmmodell unterwegs sind: brauner Plastikgriff und karierter Stoff, mal blau-grün, mal blau-grau, mal rot-grau.
Das Modell besticht durch seine hohe Verarbeitungsqualität: Bereits beim ersten Öffnen klappt der Schirm nach oben. Nach drei Minuten tropft einem das Wasser auf die Stirn und beim vierten Gebrauch verheddert sich das Metallgestänge. Doch das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt, sofern man sich bei den Preisverhandlungen nicht allzu schnell geschlagen gegeben hat. Dazu muss man aber die Verkäuferin unter das schützende Vordach des Hotels locken, sonst hat man schon verloren.
Der Absatz wird nie einbrechen, das Produkt ist dreifach genial: Es wird immer irgendwo regnen, es wird immer Leute geben, die nicht damit gerechnet haben, und es ist von so geringer Qualität, dass es zerfällt, bevor man wieder nach Hause reist. Bald schon werde ich anderswo mit einem blauen Schirm mit grünen Punkten unterwegs sein wie viele andere auch. -
… über exotische Fleischgenüsse in Nairobi (NZZ, 15.5.2015)
Grillenthusiasten und Freunde des ungehemmten Fleischkonsums hätten ihre helle Freude daran. Zartbesaitete Vegetarier oder Apologeten einer ethisch und ökologisch korrekten Ernährung hingegen haben hier nichts verloren. Die Rede ist vom Restaurant «Carnivore», im Zentrum Nairobis gelegen. Der Name, das ist unschwer zu erraten, ist Programm: Zum Pauschalpreis von 3300 kenianischen Shilling, rund 35 Franken, gibt es im «Carnivore» grilliertes Fleisch à discrétion.
Nach einer aufreibenden Fahrt durch den Feierabendstau Nairobis eine Stunde für drei Kilometer biegen wir von der Hauptstrasse ab und fahren in einen Park. Das Auto hält vor einem Tor. Der Duft von grilliertem Fleisch verrät, dass wir richtig sind. Am Eingang werden wir mit einem Hand-Metalldetektor abgetastet und das Wachpersonal wirft einen Blick in die Handtaschen.
Hitze und ein roter Schein künden das Herz des Restaurants an. Es weckt in jedem passionierten Grilleur archaische Gefühle: ein Backstein-Rondell von mehr als zwei Metern Durchmesser. Dutzende von meterlangen Spiessen liegen neben- und übereinander auf Metallträgern, darunter wabert ein Meer glühender Kohle. Schweinswürste, Spare-Ribs, Poulet-Flügel und Lammkeulen brutzeln in der Hitze.
Eine Gruppe von Gästen hat sich um eine rot getigerte Katze geschart. Sie wird gestreichelt und gehätschelt. Letze Fotos werden geschossen, die Katze wird wohl bald auf dem Feuer landen.
Im Garten nehmen wir an einer langen Tafel Platz. Getränke und eine Suppe als Vorspeise werden aufgetischt. Dann kommen die Kellner mit den Fleischspiessen. Sie gehen von Gast zu Gast, stellen die Spiesse senkrecht auf den Teller, streifen hier eine fettig glänzende Wurst vom Spiess oder schneiden dort ein Stück von der knusprig gebratenen Schweinshaxe und lassen es in den Teller fallen. Auswählen muss man nicht, beim Eingang sind die verschiedenen Fleischsorten aufgelistet, die serviert werden.
Auf einer Hinweiskarte entschuldigt sich das Restaurant dafür, dass es kein «game meat», kein Fleisch von gejagtem Grosswild serviere, da die kenianische Regierung dies bereits vor mehr als zehn Jahren verboten habe. Man sei sich bewusst, damit viele Gäste zu enttäuschen, aber selbstverständlich werde man sich dafür einsetzen, dass dieses Gesetz wieder aufgehoben werde. Statt Antilope, Büffel oder Zebra zu essen, haben wir uns mit konventionellen Gerichten zu begnügen wie gegrilltem Hasen, Hühnermagen, Hackbällchen aus Straussenfleisch, Krokodil oder Stierhoden.
Die Grilladen werden serviert, bis man «Stopp!» sagt. Nach rund 15 Portionen und gefühlten 600 Gramm Fleisch strecken auch die letzten Karnivoren Messer und Gabel. Nach einem Digestif brechen wir auf. Bei der Türe streift uns die getigerte Katze schnurrend um die Beine. -
… über zwei Welten, die nicht zueinander passen
Obdachlose Griechen, von der Krise hart getroffen, dachten wir als erstes, als wir auf der Insel Symi die Fähre verliessen. Männer und Frauen standen planlos herum, sassen auf Mäuerchen oder lagen im Schatten des Glockenturms. Sie warteten auf etwas, das nicht einzutreffen schien. Doch sie sprachen kein Griechisch, es musste sich um Flüchtlinge handeln. «Die kommen aus Syrien», sagte der Kellner im Hotel kurz angebunden. «Die Türkei liegt nahe, keine zehn Kilometer entfernt», fügte er hinzu. Dann wandte er sich anderen Gästen zu und sprach mit ihnen über das Wetter. Das Thema Flüchtlinge schien nicht beliebt zu sein.
Unser Hotel lag direkt neben dem Hafen. Wir sassen auf dem Balkon unseres Zimmers. Kaum zehn Meter entfernt und leicht unterhalb lagen die Flüchtlinge auf der gedeckten Veranda der Hafenwache. Sie waren in Schlafsäcke oder in Decken eingewickelt. Zwei Welten, getrennt durch eine Glaswand, die uns zu transparent war. Wir reagierten, wie wohl die meisten reagieren würden: Wir wandten uns ab und richteten unsere Stühle gegen die andere Seite. Wäre es angebracht gewesen abzureisen? Das hätte niemandem genützt, am wenigsten den klammen Griechen. Oder Hilfe zu leisten? Doch was hätten wir tun sollen? Immerhin schienen die Flüchtlinge mit dem Wichtigsten versorgt zu werden.
Am übernächsten Tag waren die Flüchtlinge verschwunden. Man hatte sie aufs Festland gebracht. Alsbald dominierten die typischen Touristenprobleme unseren Alltag. Wir regten uns über den beleibten Gast auf, der drei Portionen Rührei und Speck auf seinen Teller häufte und uns nichts übrig liess. Etwas weniger täte dem nicht schlecht! Beklagten uns über die Internetverbindung, die schon wieder ausgefallen war. Und fragten uns, ob wir die Katze füttern sollten, die uns so herzerweichend anschaute.
Wenige Tage später warteten am frühen Morgen erneut Flüchtlinge bei der Hafenwache. Ein Polizeiwagen fuhr vor und ein Beamter trat zu den Neuangekommenen: «Spricht jemand Englisch?» «Ja, ich. Meine Frau und meine vier Kinder warten noch in der nächsten Bucht.» Ein Motorrad wurde losgeschickt. Im Fünfminutentakt brachte der Fahrer, der eine Atemschutzmaske trug, weitere Flüchtlinge her. Das Ganze lief routiniert ab, entsprach offensichtlich dem Courant normal.
Ein syrischer Junge sass auf dem Mäuerchen beim Glockenturm und spielte mit seinem Mobiltelefon. Wer war hier Tourist, wer Flüchtling? Das war auf den ersten Blick alles andere als klar. Auch Touristen stehen herum und warten. Auch Touristen haben Koffer und Rucksäcke. Auch Touristen spielen mit dem Mobiltelefon.
Trotzdem blieben die beiden Welten unvereinbar und unsere Gefühle ambivalent. Irritation, Scham und Hilflosigkeit wechselten sich ab. Zuhause würden wir den Einzahlungsschein für die Syrienhilfe aus dem Altpapier hervorholen. -
… über fehlende Lokführer (NZZ, 27.2.2015)
In der Schweiz sind sie kaum mehr zu hören, die unverständlichen Ansagen auf Bahnhöfen und in Zügen. Längst wurden sie ersetzt durch die perfekte, immer gleich tönende weibliche Stimme. Keine verzerrten oder zu leise Ansagen mehr, keine Situationskomik wegen ungelenker Sprache. Und vor allem: Keine Stimme, die uns etwas über das Personal verraten würde: Wer wird heute die Fahrkarten kontrollieren? Der stets lächelnde, italienische Typ mit seinem Dreitagebart oder die hochgeschossene, zackige Deutsche? Meistens kommt ohnehin niemand mehr deshalb wurde die automatische Stimme überhaupt erst notwendig.
Noch gibt es Züge, in denen die Automatik erst teilweise Einzug gehalten hat und die Durchsagen immer wieder für Erheiterung sorgen. Herausfordernd ist es für viele Schweizer Kondukteure, Durchsagen in bis zu vier Sprachen vorzunehmen. Manche kämpfen sich tapfer bis zum Schluss durch, bei anderen wird die Durchsage mit jeder weiteren Sprache etwas kürzer. Oder sie kombinieren die Sprachen, wenn ein Wort fehlt, wie kürzlich im ICN nach Olten: «Welcome on board of the Intercity-Neige-Train to Olten-Biel». Wenig zimperlich im Umgang mit verschiedenen Sprachen ist man auch im TGV nach Paris. Hier tönt die Durchsage immer französisch, selbst wenn der Schaffner gerade deutsch oder englisch spricht. Besondere Stolperfallen bilden fremdsprachige Ortsnamen: Welchen Ort meinte der Zugbegleiter wohl, als er Bulatsch ankündigte?
In Ausnahmesituationen kommt die automatisierte Ansage ohnehin an Grenzen. Minimaler Informationsgehalt und maximale Unverbindlichkeit sind das Resultat, das sich die Kommunikationsprofis in den Betriebsleitzentralen für die Fahrgäste ausgedacht haben. «Wegen einer Betriebsstörung verzögert sich die Abfahrt des Zuges noch um kurze Zeit», heisst es dann. Da kann man genauso gut nichts sagen.
Eine Live-Information gibt wesentlich mehr her. So einst im Bahnhof Hausach, mitten im Schwarzwald, als der Zug 15 Minuten stehen blieb. Der Grund? Der Fahrdienstleiter verliess sein Büro, ohne Schlüssel. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und das Signal blieb auf Rot stehen, bis er sich wieder Zugang zum Stellwerk verschaffen konnte. Das kann keine automatische Stimme vermitteln zudem hätte kein Kommunikationsbeauftragter das Malheur so direkt zugegeben.
Genau so wenig wie an jenen Abend um zehn Uhr in Zürich, als der Zug nicht abfahren wollte. Nach einigen Minuten entschuldigte sich der Kondukteur mit den Worten: «Leider fehlt uns noch der Lokführer».
Zu viel Ehrlichkeit muss aber auch nicht sein: Als wir kürzlich mit gut 150 Kilometern pro Stunde auf Bern zurasten, meldete sich der Zugführer mit folgender Durchsage: «Wir suchen einen Lokführer. Gibt es unter den Fahrgästen einen?»
(Übrigens: Mit Bulatsch war Bülach gemeint) -
… bei den Schlammengeln (NZZ, 7.11.2014)
Braune Wassermassen wälzen sich durch das Flussbett, dem unser Zug folgt. Da und dort ist das Wasser bereits über die Ufer getreten. Eine halbe Stunde später treffen wir am Ziel ein. Die Bahnsteige sind voll von Passagieren, Züge sind verspätet oder fallen aus.
Es giesst in Strömen; die wenigen Meter bis zum Taxi reichen, um nass zu werden. Seit drei Tagen regne es bereits, erzählt der Chauffeur, der uns zum Hotel in der Altstadt fährt. Etwas später hat der Regen nachgelassen und wir brechen zu einem Stadtrundgang auf. Es hat kaum Verkehr und die meisten Geschäfte sind geschlossen. Die Stimmung ist düster, als wir die Via Garibaldi hochgehen. Auf der Piazza delle Erbe, gemäss Reiseführer ein pulsierender Treffpunkt, sind Stühle und Tische aufeinandergestellt und verkettet. In den dunklen, engen Seitengassen fühlen wir uns ins Mittelalter zurückversetzt.
Erst am Abend, als uns besorgte Verwandte anrufen, wird uns klar: Wir sind in ein Katastrophengebiet gereist, ohne es zu merken. Letzte Nacht sind Flüsse über die Ufer getreten und haben Teile Genuas überflutet. Ein Mann ist dabei ums Leben gekommen.
Wieder abreisen, um nicht als Katastrophentourist zu gelten? Oder bleiben und konsumieren, was wenigstens denjenigen zu Gute kommt, die nicht direkt von den Unwettern betroffen sind? Dazu gesellt sich eine praktische Frage: Fahren überhaupt noch Züge? Nach einer Nacht, in der es erneut wie aus Kübeln gegossen hat, ist das nicht mehr so sicher. Also begeben wir uns zur Stazione Brignole, um Klarheit zu gewinnen. Von der Piazza de Ferrari geht es die Strasse des 20. Septembers hinunter, der Einkaufsstrasse Genuas, an der die internationalen Modeketten zu finden sind. Doch statt grossstädtischer Eleganz kriegen wir ein Panoptikum der Stiefelmode zu sehen: Alles wird getragen, von Fischerstiefeln, die bis zum Gesäss reichen, über normale, grüne Gartenstiefel bis zu modischen, knapp über den Knöcheln endenden geblümten Stiefelchen. Freiwillige Helfer, von der Presse «Angeli del fango» Schlammengel genannt, ziehen mit Schaufeln in die tiefer gelegene Neustadt. Plötzlich sind wir dort, wo wir nicht hinwollten: Unterhalb des orientalischen Marktes stehen Absaugwagen auf den Strassen, Ladenbesitzer tragen unbrauchbar gewordene Ware Schuhen, Kleider, Haushaltartikel auf die Strassen und werfen sie auf braune, schlammige Haufen.
Längst ist die Wut auf die Regierenden da, auf die mangelnden Vorkehrungen gegen Hochwasser. Man weiss ja, dass so etwas passieren kann in Genua, nur drei Jahre liegt die letzte Überschwemmungskatastrophe zurück, damals mit sechs Toten. Wie ein Hohn wirkt da das Plakat des Zivilschutzes von Genua an der Piazza Corvetto. Es verweist auf die aktuelle Internetkampagne: «So schütze ich mich vor Überschwemmungen». -
… über das Kaufen von chinesischen Zugtickets (NZZ, 26.9.2014)
Stundenlange Wartezeiten, Plätze über Tage ausverkauft, Verständigung fast unmöglich: Ausländischen Reisenden wurde stets davon abgeraten, Zugbillette in China direkt am Bahnhof zu kaufen. Dafür war es einfach, bereits im Ausland über ein Reisebüro die Fahrscheine zu beziehen. Allerdings mit einem Haken: Man erhielt die Billette erst vor Ort. Sie wurden einem im Hotel hinterlegt oder vom Fahrer, der einem zum Bahnhof brachte, überreicht. Manchmal holte der Chauffeur das Billett noch auf dem Weg zum Bahnhof im Reisebüro ab. Dasselbe Prozedere mehrfach, wenn man umsteigen musste: Da tauchte ein Kurier am Umsteigebahnhof auf und übergab das Billett für die nächste Strecke. Das alles kostete einige Nerven: Kommt das Billett rechtzeitig? Und wer überbringt es? Doch es klappte immer.
Dieses Mal sollte es anders sein: Die Reiseunterlagen enthielten eine Buchungsbestätigung, mit der man das Ticket in China ausdrucken lassen könne an Bahnhöfen, in Reisebüros und sogar auf Flughäfen.
Die Bahnfahrt ging von Hongkong nach Shanghai, zuerst mit einem Vorortszug in die chinesische Grenzstadt Shenzhen, von dort weiter im Nachtzug. Wegen knapper Umsteigezeiten wollte ich das Ticket bereits in Hongkong holen und nicht erst in Shenzhen. Am Vorortsbahnhof Mongkok Ost schaute man die Buchungsbestätigung ratlos an. So etwas habe man noch nie gesehen. Weiter zum Hauptbahnhof, zum Schalter für direkte Züge nach China. «Das Ticket ist von einer anderen Gesellschaft ausgestellt worden», hiess es dort, und: «Gehen Sie zum Büro der chinesischen Bahnen!» Doch wieder Fehlanzeige: «Ausdrucken können wir das nicht, das kann nur der Bahnhof von Shenzhen!» Der Nervenkitzel blieb. Ich fuhr einige Stunden früher als geplant nach Shenzhen. Nach kurzem Suchen fand ich die Schalterhalle, nach zwei Minuten war ich an der Reihe. Die Dame tippte die Nummer der Buchungsbestätigung ein, dann die Passnummer. Keine Minute später hielt ich das Ticket in der Hand. Die alte Regel bestätigte sich: jede Sorge umsonst, es klappt immer! -
… über das schnelllebige China (NZZ, 25.7.2014)
Der Reiseführer, den ich für Shanghai gekauft hatte, stammte aus dem Jahr 2009. Fünf Jahre sind ohnehin schon lange, aber in einem Land, in dem so vieles so schnell ändert, ist das eine Ewigkeit. Nicht minder irritierend die Beschreibung eines Spaziergangs durch die Altstadt von Shanghai, stand doch da: «Bei der Fangbang-Strasse links einbiegen und dem Bauzaun folgen.» Das ist ähnlich exakt wie die angebliche Beschreibung einer Wanderung in den Schweizer Voralpen, wonach man der Wiese entlangzugehen habe und bei den drei Kühen rechts in den Wald einbiegen soll.
Da dachte ich: Jetzt erst recht dieser Beschreibung folgen! Mal sehen, ob noch etwas da ist, haben doch die Chinesen ihre Altstadtquartiere in den letzten Jahren systematisch dem Erdboden gleichgemacht. Als erstes ist der Konfuziustempel an der Wenmiao-Strasse an der Reihe. Immerhin, der steht noch da, schön renoviert in seiner ganzen Pracht. Weitere Signale stimmen zuversichtlich: Zuerst kommt eine Gruppe von Touristen entgegen, voran der Reiseleiter mit erhobenem Fähnchen. Dann folgen zwei öffentliche Toiletten die wurden nicht für die Touristen gebaut, sondern für die Bewohner von Altbauten, die noch über keine eigenen sanitären Anlagen verfügen.
Die Strassen werden enger. Sie sind gesäumt von zwei- bis dreistöckigen Wohnbauten mit schrägen Mauern, schiefen Fenstern und einem Gewirr von Stromleitungen. überall wird etwas verkauft: Eier, Kehrbesen, Gemüse, geflochtene Körbe oder T-Shirts. Alles exakt so, wie im Reiseführer beschreiben!
Es geht über die achtspurige Fuxing-Road, eine Schneise, die die Altstadt in zwei Teile trennt. Auf der anderen Seite sind die Gassen noch schmaler. Wäsche hängt zum Trocknen über den Köpfen, links und rechts sieht man in ärmliche Hinterhöfe und Treppenhäuser. Abfallkübel, ein kaputtes Sofa und ein Autowrack säumen den Weg. Am Ende der Qinglian-Gasse biege ich in die Fangbang-Strasse ein und stehe unvermittelt vor einem Bauzaun! Wie beruhigend: Selbst in China kann ein Provisorium fünf Jahre überdauern. -
… über fehlende Briefkästen in Peking (2010)
Die Angst, das Gesicht zu verlieren das ist eine der asiatischen Eigenschaften, die selbst eine einfache Sache kompliziert machen kann. Das erfuhr ich kürzlich in Peking:
Ich erwarte Post aus der Schweiz, die längst überfällig ist. Schliesslich erkundige ich mich bei meiner Gastgeberin, ob ein Brief für mich eingetroffen sei. «Hast du dem Pöstler meine Telefonnummer gegeben? Wenn der Pöstler kommt und ich nicht da bin, wird der Brief nicht zugestellt», antwortet sie. «Gibt es denn keinen Briefkasten?», frage ich. «Nein, das haben wir nicht!»
Ich wundere mich, wozu die abschliessbaren Metallkästchen mit Wohnungsnummern sind, die beim Hauseingang stehen. Obwohl sie keine Einwurfschlitze haben, muss es sich um Briefkästen handeln. Denn die kleinen Kästchen sind in einen grossen Kasten eingelassen. Vermutlich öffnet ihn der Pöstler mit einem Schlüssel und legt die Post von hinten in die einzelnen Fächer.
Meine Gastgeberin empfiehlt mir, auf die Post zu gehen und mich nach dem Brief zu erkundigen. Ein Brief, der nicht postlagernd geschickt wurde und für den es keinen Abholschein gibt auf dem halbstündigen Weg zur Post überlege ich, wie ich mein Anliegen mit meinen bescheidenen Chinesischkenntnissen vorbringen soll.
Es klappt überraschend schnell. Die Postbeamtin tätigt ein Telefon und erklärt mir, dass der Brief vor einigen Tagen in den Briefkasten gelegt worden sei. Ich sage, dass es keinen Briefkasten gäbe sie widerspricht jedoch vehement.
Zurück zuhause erzähle ich, was ich erfahren habe. Es folgt eine heftige Diskussion zwischen meiner Gastgeberin und ihrem Mann. Darauf nimmt dieser Schraubenzieher und Zange aus der Schublade, eilt die Treppe hinunter und macht sich am Briefkasten zu schaffen. Kleinlaut sagt er: «Es gibt keinen Schlüssel!» -
… über Busfahrten in Steueroasen (2009)
Wir möchten vom spanischen Städtchen La Seuil d'Urgell, nahe der andorranischen Grenze, nach Lleida ins Flachland. Leider fährt nur früh morgens und spät abends ein Bus. Dann die Idee: ein Abstecher über Andorra! Abfahrt in La Seuil um zehn, Ankunft in Andorra um viertel vor elf. Dort umsteigen auf den Bus, der um halb zwölf losfährt, wiederum La Seuil passiert, allerdings ohne Stopp, und bis nach Lleida fährt. 45 Minuten reichen sicher um umzusteigen.
Der Bus fährt durch Andorras Strassenschluchten. McDonald's, Intersport, Andbanc Private Bankers, Crédit Andorra riesig sind die Werbeschilder links und rechts der Strassen. Immer wieder stoppt der Bus und lässt Einkaufstouristen aussteigen.
Wo die Endstation sei, frage ich den Chauffeur. «Es gibt keine Endstation, dies ist ein Rundkurs», lautet die Antwort. «Und die zentrale Busstation?» «Queren Sie die Passage und folgen Sie der grossen Einkaufsstrasse. In 15 Minuten sind Sie dort!».
Ein Taxi ist nicht zu sehen. Wir hasten los. Um zehn nach elf treffen wir bei der Busstation ein. «Zwei Fahrkarten nach Lleida», bitten wir die Schalterbeamtin. «Der Bus fährt erst um 16.30 Uhr.» «Aber auf unserem Fahrplan steht 11.30 Uhr.» «Das ist eine andere Busgesellschaft. Sie fährt nicht von hier.» Von wo sonst, fragen wir. «Das wissen wir nicht!»
«Por favor, könnten Sie telefonieren und fragen, wo der Bus losfährt?» «Wir haben kein Telefon!» Der Blick ins Schalterinnere kann diese Aussage nicht bestätigen. Ich strecke ihr mein Handy hin, sie telefoniert. «Bei der spanischen Botschaft ist es! Das sind zehn Minuten zu Fuss.» Los geht es, über den Parkplatz, über die Kreuzung, über den Fluss, die Strasse entlang, bis wir zu einem mit Plexiglas überdachten Bushäuschen gelangen. Einzig der Netzplan der innerstädtischen Buslinien klebt da.
Wir warten. Um zwanzig vor zwölf fährt ein Minibus durch. Hinter der Windschutzscheibe steckt ein Kartonschild, auf dem Lleida steht. Hand hoch, der Fahrer bremst. Geschafft im doppelten Sinn! Zu stark geprägt vom schweizerischen Bahn- und Busangebot war die Idee, über Andorra zu reisen. Nicht jede Steueroase ist auch ein Paradies des öffentlichen Verkehrs. -
… über den Fang des Tages (NZZ, 23.10.2009)
Drei Stunden dauert die Wanderung, führt über schmale Wege, meist hoch über dem Ufer gelegen. Die Sonne brennt unerbittlich in die Bergflanke, schnell wird das Wasser knapp. Dann finden wir uns in einer anderen Welt wieder: schmale, gekieste Strässchen, keine Autos, nur ein mit Heu beladenes Gefährt zwängt sich vorbei. Die Luft flimmert vor Hitze, Insekten summen, eine Pergola spendet etwas Schatten. Ein Souvenirshop und zwei Restaurants, direkt am Wasser gelegen, warten auf Touristen. Wie in den Ferien! Weit weg von allem, als wären wir auf einer Insel irgendwo im Mittelmeer.
Dabei sind wir lediglich von Walenstadt ins autofreie Quinten am Nordufer des Walensees gewandert. Die mit Kreide beschriftete Tafel vor dem Restaurant verspricht Egli nach Art des Hauses, Zanderfilets und immer ganz frisch den Fang des Tages.
Mit einem sympathischen Lachen führt uns die Serviertochter zu einem Tisch direkt am Ufer. Jenseits des Wassers zeichnet sich eine Bergkette ab es könnte die Nachbarinsel sein. Die Ferienstimmung hält an.
Auch beim Bestellen kommen wir uns vor wie auf einer Reise in einem fremden Land: Personal und Gäste sprechen miteinander, ohne einander zu verstehen.
«Was für Rotwein haben Sie?», fragen wir. «Ja, wir haben Rotwein», antwortet die Serviertochter und lacht fröhlich. «Möchten Sie eine oder zwei Flaschen?»
«Wie sind die Egli zubereitet?» «Ein Mal Egli, gerne.» Und, nach einer kurzen Pause: «Wer möchte alles Egli?» Vier Hände gehen hoch, vier Mal Egli wird notiert.
Ein letzter Versuch, Genaueres über das Angebot aus der Küche zu erfahren: «Was ist der Fang des Tages?» Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: «Fischknusperli!» -
… über verführerische Hotelangebote auf Santorini (Sonntagszeitung, 28.10.2007)
Manchmal reise auch ich dorthin, wo es die Massen hinzieht. Meist kommt es nicht gut heraus. So wie jetzt auf Santorini. Das ist die berühmte griechische Vulkaninsel mit dem Kraterrand, der steil ins Meer abfällt und auf dem wie Farbtupfer Hunderte von weissen Häusern kleben.
Eigentlich beginnt alles wunschgemäss. Eine orientalische Stimmung empfängt mich im Hafen. Die Fährpassagiere strömen auf die Mole, wo Hoteliers und Zimmerbesitzer zu Dutzenden um die Gunst der Ankömmlinge werben. Bereits nach wenigen Metern sehe ich das Schild: «Villa Maria». Was für ein Glück! Genau das Hotel, das der Reiseführer empfohlen hat, am Kraterrand liegend, mit atemberaubendem Ausblick über das Meer.
Doch bald stellt sich heraus, dass es auf Santorini mehrere Hotels Villa Maria geben muss. Dasjenige, zu dem ich gefahren werde, liegt zwar durchaus am Kraterrand, aber auf der vom Meer abgewandten Seite. Dazwischen führt die Hauptstrasse durch und das Bett zittert, wenn Lastwagen und Busse vorbeidonnern. Der Preis hätte mich stutzig machen sollen. 40 Euro für ein Doppelzimmer, das ist zu billig für Santorini.
Verschwunden auch das orientalische Flair in den Gassen der Hauptstadt Fira. Statt einheimischer Musik plärrt konturloser Mainstream aus den Läden, statt griechisch spricht man überall amerikanisch. Der Fisch schmeckt nicht frisch, sondern nach Chlor.
Ich kriege den Koller und mache, was ich in solchen Fällen immer tue: ich löse ein Fährticket und stelle meinen Abgang von der Insel sicher. Jetzt geht es mir bereits besser.
Dann suche ich mir ein neues Zimmer für die verbleibende Nacht. Ich stosse auf ein freies Studio in den Villas Efterpi (hier nennen sie offensichtlich alles Villa, was ein Dach und zwei Betten hat). Der Hotelier zeigt mir den Raum. Ich wundere mich. Er ist noch kleiner als das Zimmer im Villa Maria, kostet aber 160 statt 40 Euro. Der Hotelier bemerkt mein Zögern. Er tritt auf das Terrässchen, macht mit dem Arm eine ausschweifende Bewegung über den Krater und das tiefblaue Meer und sagt: «Mein Herr! Hier bezahlen Sie nicht das Zimmer, sondern die Aussicht!» -
… über organisiertes Chaos (Sonntagszeitung, 11.2.2007)
Morgen fahre ich mit dem Zug in die Toskana. Ein kurzer Blick ins Internet bestätigt, was ich bereits vermutete: Streik ist angesagt. Wie immer, wenn ich nach Italien reise. Der Streik der italienischen Bahnen ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
Ich werde trotzdem fahren. Denn die bisherige Erfahrung zeigt: ich bin immer angekommen, einmal sogar früher, als es der ursprüngliche Fahrplan vorsah.
Zudem ist alles bestens organisiert, wenn Italien streikt. Auf der Website des italienischen Ministeriums für Verkehr gibt es einen «Calendario scioperi nazionali». Er zeigt, welche Streiks bei Bahn, Bus und im Flugverkehr in den nächsten zwei Monaten geplant sind. Die Liste ist so begehrt, dass der Link zu ihr auf der Startseite erscheint (www.infrastrutturetrasporti.it).
Ich fahre bis nach Mailand. Alles gemäss Fahrplan, kein Streik in Sicht. Dabei steht mein Zug nicht einmal auf der Liste der «garantierten Verbindungen». Diese Liste umfasst 112 Züge an Werktagen und 39 an Sonn- und Feiertagen. Sie wird mit den Gewerkschaften ausgehandelt und basiert auf dem Gesetz Nummer 146, das das Streikrecht regelt. Italienische Arbeitsniederlegungen haben nichts Spontanes an sich, sind vielmehr ein durchreglementiertes Ritual.
Es geht weiter, über Bologna hinaus nach Prato, unweit Florenz. Zuerst mit einer Viertelstunde Verspätung. Doch der Zug holt auf und trifft pünktlich in Prato ein. Was ist nur los mit Italien? Macht sich etwa der Regierungswechsel von Berlusconi zu Prodi bemerkbar?
Dann endlich: «Treno soppresso» steht auf der Anzeigetafel im Bahnhof Prato Centrale. Der Regionale nach Montecatini Terme fällt wegen Streiks aus. Die Beamtin am Schalter zuckt mit den Schultern und weiss nichts Genaueres. Der nächste Zug? «Vielleicht in einer Stunde, vielleicht auch nicht. Sie müssen halt schauen.» Italien, wie man es kennt. Ich bin erleichtert. Gibt es doch nichts Schlimmeres als Ferien, in denen die Erwartungen unerfüllt bleiben. -
… am Billettautomaten (Sonntagszeitung, 9.10.2005)
Neulich musste ich abends von Siggenthal nach Schaffhausen. Da die kürzeste Strecke laut Fahrplan über deutsches Gebiet führt, stieg ich zuerst in den Regionalzug nach Waldshut.
Dort angekommen, fallen mir die grossen Lettern sofort auf: «Neu Fahrkarten Deutschland und weltweit hier am Automaten.» Weltweit? Dann kann man sicher auch ein Billett nach Erzingen an der Schweizer Grenze kaufen. Ich mache mich hinter den Touchscreen: Zeitkarten, Ländertickets, Expresstickets und Fahrplanauskünfte werden offeriert. Sogar ein Schönes-Wochenende-Ticket gibt es. Das tönt verlockend, doch leider ist es erst Donnerstag Abend.
Endlich finde ich das Menü «Fahrkarte». Abfahrtort und Zielort eingeben. Dann die Anzahl Erwachsener und die der Kinder, zu unterscheiden nach eigenen und fremden. Menüschritt 6 erkundigt sich nach der Bahncard: Bahncard 1. oder 2. Klasse? Bahncard 25 oder 50? Dann Schritt 8: Fahren in 1. oder 2. Klasse? Diese Frage habe ich doch schon beantwortet, wundere ich mich. Doch alles hat seinen Sinn. Jemand könnte ja 2. Klasse fahren wollen mit der Bahncard 1. Klasse oder umgekehrt. Ob die Schweizer Automaten auch so perfekt sind? Da ich ein GA besitze, bin ich noch nie mit dem Ernstfall konfrontiert worden.
Es folgen Schritte 9 bis 11: Sofort, heute, morgen oder an einem anderen Datum fahren? Mein rechter Zeigfinger schmerzt, ich wechsle die Hand. Mit allen Zügen oder allen ausser ICE oder allen ausser ICE/EC/IC? Direkte Reiseroute oder anderer Weg? Wenn das hier noch lange dauert, kann ich mir doch noch ein Schönes-Wochenende-Ticket kaufen.
Fünf Varianten für die Rückfahrt stehen jetzt zur Wahl. Ich begreife sie nicht. Brauche ich auch nicht; endlich weg von hier ist mein Ziel.
Dann Schritt 13: Eine Liste mit den nächsten drei Fahrgelegenheiten nach Erzingen und Schaffhausen erscheint, mit der Option «Fahrplan drucken». Nirgends ein Feld, um das Billett zu lösen. Nur ein kleiner Hinweis: «Sie benötigen eine Verbundsfahrkarte. Verkauf am Nahverkehrsautomaten.»
Diesen finde ich bereits nach zwei Minuten. Er liegt am anderen Ende des Bahnsteigs. Es folgt Schritt 1. -
… über den Zwang, Reisen im Internet zu buchen (Sonntagszeitung, 5.6.2005)
Ich gehöre zur aussterbenden Sorte von Leuten, die ihre Arrangements noch im Reisebüro oder am Bahnschalter buchen. Die sich nicht blind aufs Internet verlassen, sondern den persönlichen Kontakt mit dem Verkäufer schätzen und gerne ein Lächeln oder vielleicht sogar einige Worte austauschen (Schönes Wetter heute, nicht?). Und die für eine gute Beratung gerne einige Franken mehr bezahlen.
Einfach wird es einem dabei nicht immer gemacht. Phantasievoll sind die Ausreden, wenn Arbeit ansteht: «Unser System ist gerade ausgefallen, rufen Sie später wieder an!» Wie wäre es mit einem Rückruf? «Das haben wir nicht im Programm, gehen Sie doch in ein anderes Reisebüro!» Vielleicht hätte ich etwas Ähnliches gebucht, wenn man mir entsprechende Vorschläge unterbreitet hätte.
Kein Wunder, wird heute immer mehr übers Internet gebucht. Dabei sollte die Branche Leute wie mich besonders pflegen.
Das dachte ich auch kürzlich, als ich ein Bahnbillett kaufen wollte, und zwar von der Schweiz nach Newcastle, nahe der schottischen Grenze. Scheinbar eine abwegige Idee. Die Reiseberaterin am SBB-Schalter schaute mich entsetzt an: «Was, mit dem Zug nach Newcastle? Da ist Fliegen doch viel billiger!»
Üblicherweise lasse ich mich nicht so schnell umstimmen. Das muss mir die Reiseberaterin angesehen haben, denn nach einigen Sekunden Schweigen nahm sie einen Ordner aus dem Gestell und begann darin zu blättern. Sie diktierte: «Eurostar Paris-London, einfache Fahrt 345 Franken, Retourfahrt 232 Franken. London-Newcastle, einfache Fahrt 230 Franken, hin und retour 170 Franken. TGV bis Paris 87 Franken pro Weg.»
Ich begann zu überlegen, wann ich zurückfahren soll, da ein Retourbillett offensichtlich viel günstiger kommt als zwei einfache Fahrten. Die Reiseberaterin nützte mein Zögern aus und beendete das Gespräch: «Schauen Sie doch zu Hause im Internet nach. Dort finden Sie sicher etwas Billigeres!» -
… über das Pech des Reisenden (Sonntagszeitung, 11.7.2004)
Die italienische Grenze liegt hinter mir. In Mailand werde ich auf den Nachtzug umsteigen und in wenigen Stunden auf der Insel Stromboli bei Sizilien ankommen.
Heute wird alles auf Anhieb klappen, da bin ich sicher. Einmal muss diese verflixte Serie enden. Ob Bahn, ob Flug, wann immer ich in den letzten Jahren verreiste nie kam ich auf direktem Weg an mein Ziel.
Beispiele gefällig? Vor vier Jahren blieb ich an der ostpolnischen Grenze stecken, da trotz aller gegenteiliger Auskünfte ein Transitvisum für die Reise durch Weissrussland nötig war. Ohne Einsehen die Zollbeamten, mir blieb nichts anderes als die Rückkehr nach Warschau.
Dann der Herbst 2001: Die ganze Schweiz nahm an meinem Flugerlebnis teil. Ich sass im ersten Flugzeug, das nicht mehr abhob. Nach drei Stunden Warten gab es ein Mittagessen an Bord. Nach drei weiteren Stunden die Mitteilung, dass die Swissair nicht mehr in der Lage sei zu fliegen. Immerhin, heute kann ich sagen: «Beim Swissair-Grounding war ich auch dabei!»
Oder ein Jahr darauf. Ich fuhr wieder Bahn. Von Schaffhausen über Köln nach Flensburg, mit knappen neun Minuten Umsteigezeit in Offenburg. «Kein Problem, das schaffen Sie bestimmt!», versicherte der Fahrkartenverkäufer. Nur rechnete er nicht mit dem Fahrdienstleiter in Hausach, mitten im Schwarzwald. Der verliess sein Büro, ohne Schlüssel. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und das Signal blieb auf Rot stehen, bis er sich wieder Zugang zum Stellwerk verschaffen konnte. Und das dauerte länger als neun Minuten. Betriebsstörung nennt sich das übrigens im Fachjargon.
Es ist 16 Uhr. Zuversichtlich steige ich Mailand aus dem Zug. Denn der Streik ist erst auf 21 Uhr angesagt. Doch plötzlich ist Schluss. 20 Züge auf der Abfahrtstafel, einer trägt den Vermerk «treno soppresso». Natürlich meiner.
Nach Umwegen auf Stromboli angekommen, freue ich mich auf eine geruhsame Woche. Die Hinreise ist überstanden, es kann nichts mehr schief gehen. Nach einigen Tagen jedoch zieht stürmisches Wetter auf und es ist nicht mehr möglich, die Insel zu verlassen. Drei Schnellboote werden annulliert. Ich setze meine Hoffnung auf die Fähre. Und muss zusehen, wie sie vor meiner Nase ablegt. Denn sie fährt zwei Stunden früher, als der Fahrplan es vorsieht.
Bald werde ich nach Mexiko fliegen, voller Zuversicht. Nach der verpatzten Rückreise wird diesmal die Hinreise klappen. Da bin ich ganz sicher.